«Du bist ein Gott, der mich sieht»
Unter diesem Bekenntnis steht das neue Jahr. Ich werde gesehen – wer das sagen kann, darf sich glücklich schätzen. Doch in der Geschichte, aus der dieses Bekenntnis stammt, geschieht viel Schwieriges und Widersprüchliches.
Die Geschichte handelt von zwei Frauen. Die eine heisst Sarah und ist die Frau von Abraham, dem Gott verheisst, er würde zum Stammvater eines grossen Volkes. Das klingt unglaublich, bedenkt man, dass Sarah keine Kinder bekommen kann. Für ihr Ansehen zur damaligen Zeit ist das ein grosser Makel. Die andere Frau ist Hagar. Sie steht im Dienst von Abraham und Sarah. Als Magd hat sie nichts zu melden, nicht einmal über ihren Körper darf sie verfügen. Weil Sarah trotz Gottes Verheissung nicht schwanger wird, soll Hagar für Abraham und Sarah das erste Kind zur Welt bringen. Beiden Frauen fehlt es in dieser Geschichte an Ansehen, beide kämpfen um ihre Würde.
Du bist ein Gott, der mich sieht
Menschen sehnen sich danach gesehen zu werden. Dafür tun sie alles. Sie klettern über Tische und Stühle, sie umgarnen den Chef, sie geben ihr letztes Hemd. Menschen präsentieren sich im Internet, sie zeigen Fotos, posten Kommentare. Die Botschaft dabei ist immer: Nimm mich wahr, respektier mich, sieh mich an.
Doch werden Menschen wirklich gesehen? Die Augen der anderen schauen nicht immer wohlwollend. Da will jemand zeigen, was er kann, und hofft, sich im Rampenlicht zu sehen, doch er wird von einer Jury blossgestellt. Da postet jemand Bilder von sich und erntet vernichtende Kommentare. Da nimmt jemand allen Mut zusammen und macht auf seine Not aufmerksam, doch wird diese Person nur weiter heruntergemacht.
Die Blicke von Menschen können vernichtend und unbarmherzig sein. Darum ziehen sich viele zurück, verstecken sich. Sie zeigen sich nicht mehr, aus Angst vor Abwertungen oder weil sie sich den Massstäben, um gesehen zu werden, nicht unterordnen wollen.
Auch Hagar zieht sich zurück, sie flieht dorthin, wo sie keine Blicke und keine schlechte Behandlung mehr treffen können. Doch wer nicht mehr gesehen und wahrgenommen wird, dessen Leben wird zur Wüste, zur Einöde. Ganz ohne soziale Beziehungen und ohne ein menschliches Gegenüber verlieren wir uns. Martin Buber schrieb, dass der Mensch am Du zum Ich wird und dass alles wirkliche Leben Begegnung ist.
Du bist ein Gott, der mich sieht
Auf ihrer Flucht gelangt Hagar zu einer Quelle, wo Gott sie anspricht. Sie erlebt Gott als einen, der Menschen anschaut, der ihre Sehnsucht und Bedürftigkeit wahrnimmt. Gott sieht Menschen wie sie sind und gerade nicht so, wie es der Satz ‘Gott sieht alles’ besagt. Sein Blick ist kein starres Objektiv, das Menschen auf Schritt und Tritt verfolgt, bewertet und verurteilt. Es ist ein menschliches Auge, voller Güte und Zuwendung.
Gott spricht Hagar mit ihrem Namen an und fragt, woher sie kommt und wohin sie geht. Er tut das nicht wie ein Ermittler, der jedes Detail erfragt. Er erhebt keinen moralischen Zeigefinger. Gott fragt aus tiefstem Interesse, er ist voller Verständnis. Gott blickt liebevoll, nicht allgemein und distanziert; er schaut Hagar an, erwartungsvoll.
Das gibt Hagar den Raum, ihre Sicht zu erzählen und sich selbst zu finden. Indem sie ihre Not und Trauer zur Sprache bringt, gewinnt sie wieder Hoffnung und Zuversicht. Vielleicht kann sogar ein Stück Verständnis wachsen für ihre Herrin Sarah, die ebenfalls kämpfte, um gesehen und geachtet zu werden. Gott verheisst ihr die Geburt eines Sohnes; sie soll ihn Ismael nennen – «Gott hat erhört». Mitten in der Wüste entdeckt Hagar die Quelle einer neuen Zukunft.
Damit ist zwar nicht einfach alles in Ordnung. Der Engel Gottes schickt Hagar zurück in die beengenden Verhältnisse. Ihre Rolle ist immer noch Magd zu sein, im Dienst ihrer Herrin Sarah.
Doch Hagar hat durch ihren Weg in die Wüste und die Begegnung mit Gott ein neues Bild von sich gewonnen. Sie hat erkannt, dass sie das Ansehen, das ihr vorenthalten bleibt, nicht durch Verachtung anderer Menschen herstellen kann und muss. Sie hat ein neues Bild von sich erhalten, kein geschöntes, überhöhtes, sondern ein realistisches und wahrhaftiges. Vor Gott hat sie ihren Wert und ihre Würde, die ihr niemand nehmen kann. Sie ist wertgeschätzt, unabhängig davon, was sie aus sich selbst macht.
Das gibt ihr ein neues Selbstbewusstsein und ihrem Leben eine Bedeutung. Gott hat auch für sie einen Weg ausersehen. Seine Verheissung gilt auch ihr. Sie erhält eine neue Perspektive. Auch wenn die alten Verhältnisse weiterhin schwierig bleiben, kann sie die Abwertungen und bösen Blicke der anderen besser wegstecken. Ihr Selbstbild speist sich aus neuen Quellen; sie weiss sich und ihr Leben gesehen durch Gottes gütigen und liebevollen Blick.
Als Jahreslosung soll uns der Vers begleiten und in Erinnerung rufen, dass wir von Gott gesehen sind, ob wir es spüren oder nicht. Vor ihm können wir uns sehen lassen, haben schon jetzt unser Ansehen.
Du bist ein Gott, der mich sieht.